Warten auf den Anruf

Du bist stark, auch wenn du dich zerbrechlich fühlst

low-angle photo of lightened candles
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Du befindest dich gerade in einem der emotional schwierigsten Zustände, die es gibt: Du sitzt fest im emotionalen Wartezimmer deines Lebens. Dein Alltag wird bestimmt von der Gewissheit, dass ein geliebter Mensch bald gehen wird, und von der ständigen Angst vor dem Anruf, der diese Gewissheit bestätigt.

Diese Zeit ist eine unzumutbare Belastung. Dein Körper und dein Geist sind in einem Zustand der Dauerspannung, die dich zermürbt. Alles, was du fühlst – von der plötzlichen Träne bis zum zwanghaften Funktionieren – ist eine Reaktion auf diesen Ausnahmezustand.

Als Psychologische Trauerberaterin möchte ich dir heute Mut zusprechen und dir versichern: Was du fühlst, ist menschlich, und es ist in Ordnung. Du bist nicht verrückt, nur weil deine Emotionen widersprüchlich sind.

Das Labyrinth der Vorweggenommenen Trauer

Dieser Zustand, in dem du dich befindest, wird in der Psychologie oft als Antizipatorische Trauer (oder vorweggenommene Trauer) bezeichnet. Deine Seele beginnt bereits zu trauern, obwohl der Abschied physisch noch nicht vollzogen ist.

Das Chaos der Inkonstanz

Dein Alltag wird zu einem ständigen Oszillieren zwischen zwei Extremen, das dich zutiefst verunsichert:

  • Der Funktionsmodus (Verdrängung): Du bist auf der Arbeit, erledigst Einkäufe, kochst oder unterhältst dich. Du bist beschäftigt und diese Beschäftigung hält die Realität auf Distanz. Das ist ein wichtiger Schutzmechanismus deiner Psyche, um nicht zu zerbrechen.

  • Der Einbruch (Vulnerabilität): Plötzlich hörst du ein emotionales Lied, siehst ein Bild des geliebten Menschen oder versinkst nur für einen Moment in deinen Gedanken. Die gesamte Last bricht über dir zusammen. Die Tränen schießen unkontrolliert hervor. Du fühlst dich hilflos und von der Wucht deiner Emotionen überrollt.

Diese schnellen Wechsel sind zermürbend, aber sie zeigen, dass dein Geist versucht, die immense Belastung in kleinen, dosierten Mengen zu verarbeiten. Du musst nicht die ganze Zeit stark sein.

Der Moment des Anrufs: Erleichterung und Schuld

Und dann kommt der Moment, vor dem du dich gefürchtet hast. Das Telefon klingelt. Die Nachricht ist da.

In diesem Augenblick mischen sich oft die kompliziertesten Gefühle. Neben der überwältigenden Trauer über den endgültigen Verlust spüren viele Menschen eine tiefe Erleichterung:

  • Erleichterung, weil das lange, quälende Warten nun vorbei ist.

  • Erleichterung, weil der geliebte Mensch seine Leiden hinter sich lassen konnte.

  • Erleichterung, weil die eigene Anspannung, die seit Tagen oder Wochen wie eine Schraubzwinge um die Brust lag, endlich nachlässt.

Diese Erleichterung ist oft von einem sofortigen, vernichtenden Gefühl der Schuld begleitet: "Ich darf so etwas nicht fühlen. Wie kann ich erleichtert sein, wenn diese Person gestorben ist?"

Ich sage dir: Diese Gefühle sind kein Verrat.

Die Erleichterung, die du spürst, gilt nicht dem Tod selbst, sondern dem Ende des Leidens – dem Leiden des geliebten Menschen und deinem eigenen Leiden im Zustand der ständigen Angst. Bitte verurteile dich nicht für diesen zutiefst menschlichen, physiologischen Reflex. Es ist das Ende des Kampfes.

5 Wege, um mit dem Gefühlschaos umzugehen

Wie kannst du dir in dieser emotionalen Ausnahmesituation selbst Halt geben? Hier sind einige Leitlinien, die dir helfen, deine Gefühle anzunehmen:

  1. Benenne, was du fühlst: Der erste Schritt zur Bewältigung ist die Akzeptanz. Wenn du Erleichterung, Wut und Trauer gleichzeitig empfindest, halte inne und sage zu dir selbst: "Gerade jetzt fühle ich mich erleichtert und zugleich unendlich traurig. Das ist in Ordnung." Indem du die Gefühle benennst, nimmst du ihnen die zerstörerische Kraft des heimlichen "Nicht-Fühlen-Dürfens".

  2. Schaffe „Inseln der Normalität“: Gerade in der Wartezeit ist es wichtig, den Alltag nicht vollständig aufzugeben. Halte an kleinen Routinen fest – regelmäßige Mahlzeiten, ein Spaziergang. Diese „Inseln der Normalität“ geben deinem Gehirn Ankerpunkte und helfen, die emotionale Überflutung zu dosieren. Die Beschäftigung schützt dich, sie ist eine Überlebensstrategie.

  3. Rede ohne Zensur: Sprich mit jemandem, dem du vertraust, über das Warten und über deine widersprüchlichen Gefühle, insbesondere die Erleichterung. Du musst diese Last nicht allein tragen. Oft hilft es schon, die Schuldgefühle laut auszusprechen, um ihre Macht zu mindern.

  4. Erlaube dir das "Vortrauern": Nutze die verbleibende Zeit bewusst, wenn möglich. Schreibe Briefe, erzähle Geschichten, schaue Fotos an. Das bewusste Auseinandersetzen mit dem bevorstehenden Verlust – das Vortrauern – kann den späteren Schmerz mildern. Sieh es nicht als Abschied, sondern als eine Fortsetzung der Verbundenheit.

  5. Sei dein eigener bester Freund: Trauer ist Schwerstarbeit. Du bist in einem Ausnahmezustand. Rede mit dir selbst so mitfühlend, wie du mit einem geliebten Freund reden würdest, der genau das Gleiche durchmacht. Sag: "Ich tue mein Bestes. Es ist schwer, und ich darf jetzt eine Pause machen." Senke deine Erwartungen an dich selbst radikal und schenke dir Zeit zur Ruhe und Erholung.

Das Warten ist eine der schwierigsten Phasen der Trauer. Ich wünsche dir viel Kraft für diesen Weg und denke daran: Du bist nicht allein.