Schuld: Ein Gefühl, das uns hemmt und von der Gesellschaft verstärkt wird
TRAUER
Immer wieder beobachte ich in Gesprächen mit Trauernden, wie Schuldgefühle wie unsichtbare Mauern wirken. Sie halten uns fest, verhindern, dass wir vorankommen, und zwingen uns, uns immer wieder im Kreis zu drehen. Statt den Schmerz zu lindern oder den Abschied zu erleichtern, wird Schuld zur Blockade – ein Gefühl, das uns lähmt, statt uns zu befreien.
Doch warum ist Schuld so mächtig? Warum begleiten uns diese quälenden Gedanken, und warum verstärkt die Gesellschaft sie noch, anstatt sie abzubauen? Um das zu verstehen, müssen wir uns nicht nur mit dem Gefühl selbst auseinandersetzen, sondern auch mit den gesellschaftlichen Erwartungen, die uns prägen. Denn oft ist es dieser kollektive Druck, der Schuld nicht nur entstehen lässt, sondern sie auch zu einer schier unüberwindbaren Hürde macht.
Schuld als natürlicher Teil des Menschseins
Schuld ist ein universelles Gefühl, das in jedem von uns auf unterschiedlichste Weise auftritt. Es entsteht oft aus dem Eindruck, etwas falsch gemacht zu haben oder nicht genug getan zu haben – ein Mechanismus, der uns in gewissem Maße dazu antreiben soll, Verantwortung zu übernehmen. Doch in der Trauer wird dieses Gefühl oft verzerrt. Menschen fragen sich: „Hätte ich mehr tun können?“ oder „War ich ausreichend für den verstorbenen Menschen da?“ Diese Fragen bleiben oft unbeantwortet und nähren die Selbstvorwürfe. Schuld wird so zu einem quälenden Begleiter, der die Trauer erschwert, anstatt sie zu erleichtern.
Gesellschaftliche Erwartungen verstärken Schuldgefühle
Ein wesentlicher Faktor, der Schuldgefühle in uns verstärkt, sind die Erwartungen und Normen unserer Gesellschaft. Wir leben in einer Kultur, die Leistung und Kontrolle hoch schätzt. Auch in der Trauer wird oft – bewusst oder unbewusst – erwartet, dass Menschen auf eine „angemessene“ Weise trauern, ihre Gefühle kontrollieren oder „nach einer Zeit loslassen“ können.
Besonders problematisch wird es, wenn trauernde Menschen das Gefühl bekommen, sie müssten der Gesellschaft gegenüber Rechenschaft ablegen:
Hast du genug für den Verstorbenen getan?
Trauerst du „richtig“?
Warum fühlst du dich immer noch schuldig, obwohl niemand dir Vorwürfe macht?
Diese Fragen, ob ausgesprochen oder nicht, verstärken das Gefühl, dass man den eigenen oder gesellschaftlichen Erwartungen nicht gerecht wird.
Der subtile Einfluss von „Schuld-Kultur“
Unsere Gesellschaft neigt dazu, Schuld in moralischen Kategorien zu betrachten. Dieses Denken dringt auch in unsere persönliche Verarbeitung ein. Besonders in Krisensituationen wie Verlusten suchen wir nach einem Grund, nach einer Antwort auf die Frage „Warum ist das passiert?“. Und häufig wenden wir diesen Suchprozess nach innen: „Hätte ich etwas verhindern können?“ Schuld wird zum Sündenbock für das, was wir nicht kontrollieren können.
Die Medien tragen dazu bei, indem sie oft narrativen Schuld zuweisen. In Geschichten, sei es in Filmen, Nachrichten oder Büchern, gibt es immer eine Ursache, einen Schuldigen. Diese Vorstellung sickert in unser Denken ein und macht es schwer, Dinge einfach als das zu akzeptieren, was sie sind: schmerzhafte, oft sinnlose Verluste.
Wie können wir mit Schuld umgehen?
Der erste Schritt, um mit Schuldgefühlen umzugehen, ist das Verständnis, dass sie oft mehr mit uns selbst als mit der Realität zu tun haben. Sie sind keine objektive Wahrheit, sondern eine emotionale Reaktion auf eine komplexe Situation.
Reflexion statt Selbstvorwürfe: Sich bewusst Zeit nehmen, um die Schuldgefühle zu hinterfragen: Sind sie gerechtfertigt? Oder basieren sie auf Erwartungen, die ich nie hätte erfüllen können?
Mitgefühl für sich selbst: Trauer ist keine lineare Reise. Es ist wichtig, sich selbst genauso viel Mitgefühl entgegenzubringen wie anderen in ähnlichen Situationen.
Gespräche suchen: In einer unterstützenden Gemeinschaft oder mit einer professionellen Begleitung über die Schuldgefühle zu sprechen, kann helfen, sie zu relativieren.
Gesellschaftliche Normen hinterfragen: Akzeptieren, dass niemand eine „richtige“ Art zu trauern hat, kann befreiend sein.
Abschließende Gedanken
Schuldgefühle sind ein mächtiges, oft missverstandenes Gefühl. Sie können uns helfen, Verantwortung zu übernehmen, aber sie können auch lähmen, wenn sie überhandnehmen. Die Gesellschaft spielt eine nicht unerhebliche Rolle dabei, wie wir Schuld empfinden – sei es durch Erwartungen, Normen oder kulturelle Muster.
Es ist an der Zeit, uns selbst und anderen die Last zu nehmen, ständig Schuld tragen zu müssen. Besonders in der Trauer sollten wir uns darauf konzentrieren, das Geschehene anzunehmen und uns Raum für Heilung zu geben – frei von Urteil, frei von Schuld.
Denn wahre Heilung beginnt dort, wo die Last der Schuld endet.
Sylvia Wichmann
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