Die Trauerlüge
TRAUER
Ein Plädoyer für deinen ganz persönlichen Weg
In meiner Arbeit als Trauerbegleiterin begegnet mir eine Frage immer und immer wieder – wie ein leiser, bohrender Zweifel, der sich in die Herzen der Trauernden schleicht:
„Trauere ich richtig?“
Diese Frage kommt in so vielen Facetten daher. Du flüsterst sie, wenn du nach einem Lachanfall ein schlechtes Gewissen hast: „Ich habe gelacht und fühle mich komisch, weil viele denken, ich müsste jetzt doch noch trauriger sein.“ Du rufst sie aus, wenn die Verzweiflung über die scheinbaren Erwartungen der Außenwelt zu groß wird: „Ich trauere zu sehr, zu wenig. Ich weine nicht genug, ich weine zu viel. Warum ist das so?“
Warum stellen wir uns diese Frage überhaupt? Und warum fällt es uns als Gesellschaft so unendlich schwer, die schlichte Wahrheit zu akzeptieren: Du musst deinen eigenen Weg durch die Trauer finden und dein Weg ist richtig.
Die Last der „richtigen“ Trauer
Trauer ist eine der ursprünglichsten und universellsten menschlichen Erfahrungen, und doch ist sie in unserer modernen Welt oft normiert und reglementiert. Es scheint ein unausgesprochenes Skript zu geben, wie Trauer auszusehen hat: Tiefe Traurigkeit, Tränen, Rückzug, vielleicht die berühmten „Phasen“, die starr durchlaufen werden müssen - ein Trugschluss.
Dieses Skript setzt dich als Trauernde oder Trauernden unter enormen Druck:
Der Erwartungsdruck: Du fürchtest das Urteil anderer. Wenn du Freude empfindest oder im Alltag funktionierst, befürchtest du, es könnte als Zeichen gewertet werden, dass der Verlust dich nicht „tief genug“ trifft – ein Verrat an dem geliebten Menschen.
Die Scham über die Vielfalt deiner Gefühle: Trauer ist kein eindimensionales Gefühl. Sie ist ein Chaos aus Liebe und Schmerz, Wut und Dankbarkeit, Verzweiflung und manchmal sogar Erleichterung. Lachen kann ein Akt der liebevollen Erinnerung sein oder schlicht ein Ventil, das deine Seele für einen Moment entlastet. Es ist keine Absage an die Trauer, sondern ein Zeichen deiner Lebendigkeit in der Trauer.
Die Angst vor dem Unbekannten: Wenn es keine festen Regeln gibt, fühlst du dich im Schmerz noch haltloser. Die Frage „Trauere ich richtig?“ ist oft dein verzweifelter Versuch, dem Kontrollverlust der Trauer mit einer Art Gebrauchsanweisung zu begegnen.
Deine Trauer ist wie dein Fingerabdruck
Wir akzeptieren, dass wir alle anders aussehen, dass wir unterschiedliche Berufe und Lebensgeschichten haben. Warum fällt es uns so schwer, die Individualität in unserem Schmerz anzunehmen?
Deine Trauer ist einzigartig. Sie ist so einzigartig wie die Beziehung, die du zu dem verlorenen Menschen hattest, wie deine Persönlichkeit, deine Kultur und deine Lebenserfahrung.
Du brauchst vielleicht die Stille und den Rückzug (Introvertierte Trauer).
Eine andere Person braucht das Reden und die Aktivität (Extrovertierte Trauer).
Du spürst vielleicht körperliche Schmerzen und tiefe Erschöpfung.
Ein anderer Mensch sucht Trost in neuen Aufgaben und der Organisation des Alltags.
Du weinst täglich, andere trauern „trocken“ und spüren den Schmerz tief im Inneren, ohne Tränen.
Keine dieser Ausdrucksformen ist besser oder schlechter. Sie sind einfach nur deine Art zu trauern. Dein Lachen in der Trauer ist keine Sünde, sondern ein Beweis dafür, dass die Liebe, die du empfindest, stark genug ist, um das Leben selbst im Angesicht des Verlustes noch zu spüren.
Was wir uns gegenseitig schenken können
Die wichtigste Aufgabe, die wir in der Trauerbegleitung und auch als mitfühlende Freunde und Familie haben, ist es, den Raum zu öffnen für ALLE Formen der Trauer.
Lass uns aufhören, nach einem Fahrplan zu fragen. Löse dich von der Vorstellung, es gäbe ein „zu früh“ oder ein „zu spät“ für bestimmte Gefühle.
Die einzige „richtige“ Art zu trauern ist die, die dir im jeweiligen Moment dient. Es ist der Weg, den dein Körper und deine Psyche ganz von allein gehen.
Ein Auftrag und eine Einladung.
Die Frage "Trauere ich richtig?" entsteht oft, weil du dich isoliert fühlst. Du glaubst, dein Chaos aus Gefühlen sei einzigartig oder gar falsch. Doch diese Unsicherheit ist Universell. Du stehst mit deinem individuellem Chaos nicht alleine da. Viele teilen das Gefühl, dass ihr Trauer nicht in die Erwartungen der Umwelt passt.
An dich, der oder die du trauerst: Deine Trauer hat keine lineare Bahn. Sie kommt in Wellen, wie der Ozean. Mal ist das Wasser ruhig und du kannst atmen, dann wieder schlagen die Wellen mit voller Kraft über dir zusammen. Bitte gib dir selbst die Erlaubnis, dich von den Urteilen zu befreien. Dein Schmerz und deine Liebe sind nur dir bekannt. Dein Weg ist nicht nur richtig sondern dein ganz persönlicher.
An alle, die begleiten: Wir alle tragen die Verantwortung, die Vielfalt des Schmerzes zu akzeptieren. Wir versuchen oft die Trauer zu kontrollieren, um unsere eigene Angst vor der Endlichkeit zu besänftigen. Doch mit jeder Aussage "du weinst ja gar nicht", " du bist ja so fröhlich" drängen wir den Trauernden in die Isolation. Biete einfach nur deine Präsenz an, sei Verfügbar und ein Anker, ohne Ratschläge oder Bewertungen.
Die einzige richtige Reaktion ist Mitgefühl. Und du liebe/r Trauernde/r, musst diesen stürmischen Ozean nicht alleine befahren. Suche dir Menschen, die nicht versuchen die Wellen zu glätten, sondern dich dabei unterstützen, sie auszuhalten.
Hier oder hier gibt es weitere tolle Tipps.
Wenn du dich das nächste mal Fragst: "Trauere ich richtig?", dann atme tief durch und antworte dir selbst: "Ja, genau so wie es gerade ist, ist es richtig und ich bin auf einem guten Weg."
Sylvia Wichmann
Mail: s.wichmann@psychologische-beratung-list.de
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