Es gibt keine falschen eigenen Gefühle – nur falsche Interpretationen

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Als psychologische Beraterin mit eigener Praxis begegnet mir in Gesprächen mit Klient*innen immer wieder ein zentraler innerer Konflikt:
„Ich weiß, dass ich eigentlich nicht so fühlen sollte…“
Oder:
„Ich übertreibe mal wieder – das ist doch völlig überzogen.“

Was, wenn ich dir sage: Es gibt keine falschen Gefühle.
Nur falsche Interpretationen.

Diese Erkenntnis ist oft der erste Schritt in Richtung mehr Selbstmitgefühl, emotionaler Klarheit und innerer Stabilität.
Denn Gefühle sind kein Beweis für Irrationalität – sie sind ein wertvoller innerer Kompass.

Gefühle sind Daten, keine Urteile

Unsere Gefühle entstehen aus der Verbindung von Wahrnehmung, Erfahrung, innerer Haltung und persönlicher Geschichte. Sie sind wie innere „Sensoren“, die uns anzeigen, was uns wichtig ist, was uns belastet oder wo wir uns vielleicht bedroht fühlen.

Ein Beispiel:
Stell dir vor, du bekommst keine Antwort auf eine wichtige Nachricht.
Du fühlst dich verletzt, vielleicht auch wütend oder verunsichert.

Das Gefühl ist real. Es basiert vielleicht auf früheren Erfahrungen, in denen du dich übersehen oder abgelehnt gefühlt hast. Doch was passiert nun in deinem Kopf?

„Ich bin zu sensibel.“
„Ich nerve wahrscheinlich einfach.“
„Ich bin es nicht wert, dass man mir antwortet.“

Diese Gedanken sind Interpretationen. Und genau hier beginnt der Kreislauf aus Selbstkritik, innerem Rückzug und emotionalem Schmerz – obwohl das ursprüngliche Gefühl einfach ein Signal war: „Ich wünsche mir Verbindung. Ich bin gerade verunsichert.“

Warum wir unsere Gefühle so oft negativ bewerten

1. Gelerntes Gefühlsverbot

In vielen Familien wird Kindern – bewusst oder unbewusst – vermittelt:
„Ein Indianer kennt keinen Schmerz“, „Jetzt sei doch nicht so zickig“, „Du musst nicht traurig sein.“
Das prägt unser Erwachsenenleben. Viele fühlen sich mit starken Gefühlen peinlich berührt oder glauben, sie müssten sie „wegerziehen“.

2. Perfektionismus und Kontrollbedürfnis

In einer Leistungsgesellschaft, in der Selbstoptimierung als Ideal gilt, erscheint emotionale Verletzlichkeit oft als Makel. Gefühle gelten als unprofessionell, unpraktisch, schwach – dabei sind sie zutiefst menschlich.

3. Mangel an emotionalem Vokabular

Oft fehlt es an der Fähigkeit, Gefühle differenziert zu benennen. „Ich fühl mich schlecht“ ersetzt konkrete Emotionen wie Frustration, Enttäuschung, Traurigkeit oder Überforderung – und macht es schwer, angemessen mit ihnen umzugehen.

Gesunde Selbstkritik ist wichtig – aber sie braucht einen guten Ton

An dieser Stelle ist mir eines wichtig zu betonen:
Gefühle zu akzeptieren heißt nicht, sie blind zu rechtfertigen.
Es ist gesund und sinnvoll, sich selbstkritisch zu hinterfragen.

  • Reagiere ich vielleicht überzogen?

  • Triggern mich hier alte Muster?

  • Ist meine Wahrnehmung vielleicht verzerrt?

Doch der Ton macht den Unterschied.
Selbstreflexion soll uns weiterbringen – nicht kleinmachen.

Statt:
🟥 „Ich bin so anstrengend und emotional, kein Wunder, dass mich keiner ernst nimmt.“
Besser:
🟩 „Ich spüre gerade viel Wut. Das kenne ich von mir. Ich frage mich: Was brauche ich, um mich verstanden zu fühlen?“

Selbstkritik wird dann zu einem Werkzeug innerer Reifung – nicht zur Waffe gegen das eigene Selbst.

Wie wir den Umgang mit Gefühlen neu lernen können

🌱 Beobachten statt bewerten

Gefühle dürfen einfach da sein. Der erste Schritt ist, sie wahrzunehmen – ohne sofort ein Urteil zu fällen.

💬 Gefühle benennen

Nutze eine differenzierte Sprache. Statt nur „wütend“ – vielleicht „gekränkt“, „überfordert“, „ohnmächtig“. Je präziser die Sprache, desto klarer das Verstehen.

🔍 Interpretationen prüfen .

Was denkst du über das Gefühl? Kommt da sofort ein innerer Kritiker? Versuch, zwischen Gefühl und Bewertung zu unterscheiden.

🤝 Mitgefühl mit dir selbst üben

Sprich innerlich mit dir wie mit einem guten Freund oder einer Freundin. Verständnisvolles Selbstgespräch ist keine Schwäche – sondern emotionale Reife.

Gefühle sind deine Verbündeten

Jedes Gefühl ist ein Hinweis auf etwas, das gesehen werden will.
Vielleicht auf ein Bedürfnis, eine alte Wunde oder eine Grenze, die gerade überschritten wird.
Es lohnt sich, diesen inneren Botschaften zuzuhören – ohne sie vorschnell zu bewerten oder wegzudrücken.

Es gibt keine falschen eigenen Gefühle. Nur falsche Interpretationen.
Und manchmal ist es genau die Interpretation, die uns vom wahren Kern trennt: dem, was wir wirklich brauchen.

Sylvia Wichmann

Mail: s.wichmann@psychologische-beratung-list.de

Telefon: 01575 2567346

Podbielskistr. 139

30177 Hannover/List