„Die Trauer wartet“
Abschied nehmen, wenn ein Besuch nicht möglich ist
TRAUER
Es gibt Momente im Leben, in denen wir Abschied nehmen müssen, ohne die Hand noch einmal halten zu können, ohne einen letzten Blick, ohne ein letztes Wort. Gerade wenn ein geliebter Mensch im Sterben liegt und sich ausdrücklich keinen Besuch mehr wünscht, kann das für die Zurückbleibenden eine kaum aushaltbare Situation sein. Solche und ähnliche Fragen und Gefühle gehen vielen meiner Klient*innen durch den Kopf. Der Wunsch nach Nähe, nach einem Abschied, nach einem letzten „Ich liebe dich“ bleibt unerfüllt – und schmerzt tief.
Doch was bewegt sterbende Menschen dazu, keine Besuche mehr empfangen zu wollen?
Warum lehnt die sterbende Person meinen Besuch ab?
Sterbende Menschen befinden sich in einem hochsensiblen seelischen Zustand. Der Rückzug kann viele Gründe haben – und keiner davon richtet sich gegen dich:
Scham oder Kontrollverlust: Wenn der Körper zerfällt, empfinden viele Menschen Scham, sich so verletzlich und hilflos zu zeigen. Sie wollen in Würde gehen, nicht in einem Moment der Schwäche gesehen werden.
Emotionale Überforderung: Der Abschied von geliebten Menschen bedeutet auch Loslassen – und manchmal ist das einfach zu viel. Manche möchten den Schmerz des Abschieds nicht noch einmal verstärken, für sich und für die Besucher.
Innere Vorbereitung auf den Tod: In der Sterbeforschung (z. B. nach Elisabeth Kübler-Ross) zeigt sich oft, dass sich Menschen in den letzten Tagen oder Stunden in einen inneren Raum zurückziehen – sie spüren, dass ihre Zeit gekommen ist, und wollen sich innerlich lösen.
Ein letzter Akt der Selbstbestimmung: Auch in einer Phase völliger Ohnmacht kann ein Nein zum Besuch ein letzter Ausdruck von Autonomie sein.
Darf ich mich über den Wunsch hinwegsetzen, nicht besucht zu werden?
Vielleicht stellst du dir insgeheim genau diese Frage: „Aber ist es nicht wichtiger, dass ich mich verabschieden kann? Sie stirbt doch bald – darf ich dann nicht trotzdem zu ihr?“
Ein interessantes Interview zu diesem Thema könnt ihr hier lesen
Diese Gedanken sind zutiefst menschlich. Sie entspringen nicht Egoismus, sondern Verzweiflung, Liebe und Sehnsucht.
Und doch: Der letzte Wille verdient Respekt – auch wenn er uns weh tut.
Wenn ein Mensch im Sterben klar äußert, keinen Besuch mehr zu wünschen, ist das ein zutiefst persönlicher Ausdruck von Autonomie. Selbst wenn das Leben schwindet, bleibt der Wunsch nach Selbstbestimmung. Dies zu achten, ist ein letzter Akt der Liebe – vielleicht der schwerste überhaupt.
Aber: Es gibt selten nur Schwarz oder Weiß.
Manchmal hilft ein offenes Gespräch mit Pflegekräften oder Angehörigen:
Ist es wirklich ein kategorisches Nein – oder eher Unsicherheit, Angst, Scham?
Könnte ein kurzer, stiller Besuch – ohne Worte, ohne Nähe – doch möglich sein?
Einige Hospize oder Palliativstationen unterstützen solche symbolischen Abschiede, bei denen Nähe möglich wird, ohne gegen den Willen der sterbenden Person zu handeln. Wichtig ist, mit Feingefühl vorzugehen, nicht mit Forderungen.
Was du brauchst, zählt – aber nicht um jeden Preis.
Ein Abschied auf deine Weise ist wichtig. Aber nicht auf Kosten des inneren Friedens der anderen. Es gibt Wege, deinen Abschied zu gestalten, ohne den Wunsch nach Rückzug zu verletzen.
Vielleicht ist dieser Verzicht der größte Liebesdienst, den du ihr am Ende noch erweisen kannst.
Und du?
Was machst du mit dem unerfüllten Bedürfnis nach Abschied?
Du willst dich verabschieden, du willst Frieden machen, du willst der Person zeigen, wie viel sie dir bedeutet. Das ist so verständlich – und so menschlich. Doch was tun, wenn du nicht mehr darfst?
Schreibe einen Brief. Sag alles, was du sagen willst. Du kannst ihn ihr schicken, einer Pflegeperson geben oder symbolisch an einem Ort niederlegen, der für euch beide bedeutungsvoll ist.
Rituale helfen. Zünde eine Kerze an, höre euer gemeinsames Lied, nimm dir Zeit für eine stille Zwiesprache. Rituale geben Halt, wo Worte fehlen.
Rede mit ihr – in Gedanken. Studien aus der Trauerbegleitung zeigen, dass symbolische Kommunikation das Gehirn beruhigen und echte Linderung verschaffen kann.
Verzeihe. Auch dir selbst. Vielleicht hattest du noch so viel zu sagen. Doch Schuld ist ein schwerer Mantel. Nimm ihn dir ab. Du darfst loslassen.
Finde einen sicheren Raum für deine Gefühle. In Gesprächen, in der Beratung oder in Trauergruppen. Du musst das nicht allein tragen.
„Die Trauer wartet – du kannst dich betäuben und ablenken, so viel du willst. Die Trauer wartet, bis du bereit bist.“
Dieser Satz ist kein Urteil – sondern meine Erinnerung an dich. Denn Trauer ist keine Krankheit, die geheilt werden muss. Sie ist ein Ausdruck deiner Liebe. Wer um einen Menschen trauert, beweint nicht nur dessen Tod, sondern auch das gemeinsame Leben, das nun stillsteht.
Sich mit dem Tod auseinanderzusetzen, ist kein düsteres Hobby – es ist eine Lebenskunst.
Wir können nicht vor ihm davonlaufen. Nicht in Arbeit, nicht in Serien, nicht in überfüllten Kalendern. Der Tod ist Teil unseres Lebens – und unsere Beziehung zu ihm prägt unsere Beziehung zum Leben. Wer sich ihm stellt, erkennt, was wirklich zählt. Nähe. Liebe. Echtheit.
Ein Abschied ohne Berührung ist kein fehlgeschlagener Abschied.
Deine Liebe, dein Schmerz, deine Gedanken – sie sind da. Und sie sind echt. Genauso wie dein Recht, traurig zu sein.
Wenn du magst, begleite ich dich gern ein Stück auf diesem Weg.
Sylvia Wichmann
Mail: s.wichmann@psychologische-beratung-list.de
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